Renaissance = Wiedergeburt
Bedeutung: Wiedergeburt der Antike, d.h. das Anknüpfen an antike Bildungs- und Kunsttraditionen
Die
Renaissance markiert den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, in ihr
vollzog sich eine von der griechischen und römischen Antike inspirierte
Erneuerung von Kunst und Wissenschaft (Humanismus).
Die Menschen
überwinden jahrhundertealte Barrieren aus Glauben und Tradition. Sie
gelangen in Wissenschaft, Kunst, Philosophie und Religion zu
fundamentalen Erkenntnissen, entwickeln ein neues Selbstverständnis. Mit
der Loslösung von der mittelalterlichen Gebundenheit an die kirchliche
und feudale Ordnung entstand eine eher städtische Kultur, in der die
Rolle des Bürgertums gegenüber der des Adels immer wichtiger wurde.
Die
Künstler der Renaissance sind historisch bestimmbare, namentlich
genannte Persönlichkeiten; die Themenkreise, die in der bildenden Kunst
behandelt wurden, weiteten sich aus - es wurden auch profane Themen für
weltliche Auftraggeber geschaffen. Die Ursprünge der Renaissance, die
einen tiefen Einschnitt in der Geschichte von Kunst und Kultur
markierten, lagen in Italien, insbesondere in Florenz.
Impulse für die neue Kunst
Die wesentlichen Impulse für die neue Kunst im Italien des 15. Jh. waren folgende:
• die Anstöße durch die Wiederentdeckung der Antike
• eine neuartige Zuwendung zur Natur
• der wissenschaftliche Stellenwert der Kunst
Alle drei stehen in einem inneren Zusammenhang und verbinden sich zu einer neuen Stil-Einheit.
Geistige Grundlage
• Humanismus: Einstellung, bei der der Mensch, die Würde als oberste Maßstäbe für die persönliche Lebensführung galt
• Ideal: freier, unabhängiger Mensch, Bildung des Geistes, Annerkennung der menschlichen Gleichwertigkeit
Wiederentdeckung der Antike
Die Wiederentdeckung der Kunst der Antike begeistert ein Jahrhundert lang die elitäre Schicht Italiens.
•
Vor allem auf den Universitäten von Bologna und Padua studiert man
römisches Recht, antike Philosophen, antike Schriftsteller und antike
Kunst-Theorien.
• Italienische Dichter reformieren die Dichtkunst; sie führen die antiken Versmaße wieder ein.
• In Florenz wird unter dem Fürstenhaus der Medici eine Philosophen-Schule gegründet.
•
Italienische Gelehrte erforschen durch Grabungen, Vermessungen und
Rekonstruktionen die antiken Denkmäler Roms. Das Pantheon mit seiner
genialen Kuppel-Konstruktion wird bewundert und liefert vielfältige
Anregungen für die neue Kunst.
• Päpste, Fürsten und Künstler sammeln antike Schriften, Plastiken und Münzen.
Man
lehrte die Richtlinien, Gestaltungsprinzipien und Wertmaßstäbe der
Antike. Man versuchte, ihr Wesen und ihren Geist zum Steuerprinzip des
eigenen künstlerischen Schaffens zu machen. Dass dabei dennoch keine
neue, keine zweite antike Kunst entstand, spricht für die enorme
Schöpfungskraft der Renaissance.
Neue Zuwendung zur Natur
Die
Natur ist die Schöpfung Gottes, des größten "Künstlers". Hier liegen
alle Wurzeln der Schönheit, der Vollkommenheit und der "Natürlichkeit".
Nur sind nicht alle Erscheinungsformen der Natur schön und vollkommen.
Sie kennt auch das Missgebildete, das Hässliche. Daher besteht die
Aufgabe des Künstlers darin, die Gesetze, die Grundidee der Natur zu
studieren und zu erkennen, das Schöne auszufiltern und im Kunstwerk zu
vervollkommnen. Auf diese Weise kann der Künstler die Natur übertreffen.
Kunst und Wissenschaft
Das
Kunstwerk der Renaissance muss richtig und schön sein. Richtig ist es,
wenn es dem Erscheinungsbild der Natur entspricht. Diese "natürliche"
Richtigkeit ist zugleich die Grundbedingung für die Schönheit. So waren
die Renaissance-Künstler geradezu gezwungen, sich wissenschaftlich mit
der Natur auseinander zusetzen. Und sie taten es mit großer Intensität
in zwei Bereichen:
• Sie studierten die Anatomie des Menschen,
indem sie neben vielen Modell-Studien auch Leichen sezierten, um das
Knochengerüst und Muskelpartien und ihre Funktionen kennen zulernen.
•
Sie erforschten die Gesetze der Zentralperspektive, die nur dadurch
gefunden werden können, dass sich die Künstler mit den Gesetzen der
Optik und der Geometrie auseinandersetzen.
Die Abbildung der Natur
war also in der Tat das Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnisse, und
die so entstandenen Bilder hatten bei den Zeitgenossen den Rang
konkreter wissenschaftlicher Ergebnisse
Die Darstellung des Raumes
Leonardo da Vinci: „Abendmahl“
Die
Darstellung des realen, erfahrbaren Raumes gelingt dem
Renaissance-Künstler mit Hilfe der Zentralperspektive. Sie macht es
möglich, auf der zweidimensionalen Bildebene ein dreidimensional
wirkendes Bild herzustellen, das dem Netzhautbild des menschlichen Auges
entspricht. Die dazu notwendigen wichtigsten optischen und
geometrischen Gesetze sind folgende:
• Der Horizont verläuft waagrecht und befindet sich immer in Augenhöhe des Betrachters (des beobachtenden Künstlers).
•
Parallele Linienscharen (jeweils eine Gruppe von Linien, die
untereinander parallel sind) haben sowohl in der Realität als auch auf
der Abbildung einen gemeinsamen Fluchtpunkt.
• Jede eigene
Linienschar hat einen eigenen Fluchtpunkt, d.h. so viele Linienscharen
existieren, so viele Fluchtpunkte gibt es.
• Alle Linienscharen, die parallel zum Erdboden (Fußboden) verlaufen, haben ihren Fluchtpunkt auf dem Horizont.
Die Folgen dieser Konstruktion sind von höchster Bedeutung:
•
Sie ermöglicht ein optisch einheitliches Bild, d.h.: alle Objekte sind
in Größe und Proportionen mit ihren typischen Verkürzungen und Ansichten
genau an der richtigen Stelle in ein einheitliches Koordinaten-System
eingeordnet.
• Durch sie wird die Wiedergabe der Plastizität,
der Stofflichkeit, der Licht- und Schattenphänomene erst voll wirksam.
Jetzt erst ist die Illusion des natürlichen Objekts vollkommen.
Die
Nachteile der zentralperspektivischen Raumwiedergabe, die im Grunde
erst von der modernen Kunst aufgegeben wurde, sind erst uns ganz bewusst
geworden. Sie betreffen zwei ganz verschiedene Phänomene:
• Um
solche wissenschaftlich konstruierten Abbilder der Natur zu erhalten,
musste man in vielen Fallen die Landschaften mit Architekturen versehen,
da ja nur an geometrischen Gebilden parallele Linienscharen existieren,
mit deren Hilfe man die wissenschaftliche Genauigkeit der Konstruktion
demonstrieren konnte. So entstand auf vielen Renaissance-Bildern oft
eine unwirkliche, zwar idealisiert wirken sollende, im Ganzen aber
übertriebene und kalte Architektur-Kulissen-Landschaft.
• Die
Zentralperspektive ermöglicht nur scheinbar eine objektivere Wiedergabe
der Wirklichkeit. Es tritt das Phänomen auf, dass der Maler insofern ein
subjektives Bild der Natur anfertigt, als ja das zentralperspektivische
Bild nicht nur von ihren Objekten, von ihrer Lage zueinander und von
ihrer Lage zur Projektionsebene abhängig ist, sondern ganz entscheidend
vom spezifischen Standpunkt des Malers. Er ist — ganz ähnlich einem
modernen Naturwissenschaftler beim Experimentieren — als Subjekt mit in
die objektiven — hier räumlichen und optischen — Zusammenhänge
einbezogen. Auch der Betrachter des Bildes ist gezwungen, die Dinge vom
Standpunkt des Künstlers aus zu betrachten, oder — anders ausgedrückt —
die Seite der Dinge zu sehen, die der Maler durch seinen eigenen,
bewusst bezogenen Standort bestimmte.
Wir erhalten durch die
Zentralperspektive kein Seinsbild der Dinge, sondern ein
Erscheinungsbild. Wir erfahren nicht so sehr, wie die Dinge sind,
sondern wie sie erscheinen.
Die Darstellung des Menschen
Mensch im Mittelpunkt (häufig Portraits)
Leonardo da Vinci,
Proportionsstudie
Erste
Voraussetzung für die Darstellung des Menschen ist die genaue Beachtung
der Anatomie. Körperproportionen, Verkürzungen, Muskelspiel,
Bewegungen, Drehungen, Stellungen, plastische Bezüge werden systematisch
erforscht und in vielen Skizzen festgehalten. Es wird üblich, für ein
einziges Bild viele anatomische und sonstige Vorzeichnungen
anzufertigen.
Da der Renaissance-Künstler sich seines Menschseins
in neuer Weise bewusst wird, entdeckt er Normen und Gesetzmäßigkeiten
der körperlichen Erscheinung des Menschen und schärft dabei gleichzeitig
sein Empfinden für das, was außerhalb der Norm liegt, für das
Einmalige, das Besondere, für die Individualität des Menschen.
Die
Portrait- und Selbstportrait-Malerei beginnen im Grunde erst mit der
Renaissance und erreichen zugleich einen künstlerischen Höhepunkt. Der
Portraitierte wird nicht nur durch seine spezifische Physiognomie,
sondern häufig auch durch Attribute seiner persönlichen Umwelt
charakterisiert, bisweilen sogar schon durch rein bildnerische Mittel,
wie z.B. die Farbe des Hintergrundes etc.
Umwelt und Mensch bilden
eine Einheit, sie sind Teil ein und derselben Ordnung. Mit Hilfe der
Zentralperspektive gelang es, diese Einheit harmonisch darzustellen: der
Mensch in der Architektur, in seinen persönlichen Räumen, in der Natur,
in der Landschaft. Nur ganz selten kommt es vor, dass ein Portrait vor
einen neutralen Hintergrund gestellt wird. Das löst ihn aus seiner Welt
heraus.
Die natürliche Darstellung des Menschen wird erst glaubhaft, wenn sie die Bewegung des menschlichen Körpers einfangen kann.
Die
Renaissance-Figuren enthalten den künftigen Bewegungsablauf schon in
der Darstellung der Muskeln. Öfters wurden daher die Menschen auf
Renaissance-Bildern nackt gemalt und nachträglich erst mit Kleidern
ausgestattet.
Der nackte Mensch
Ohne
Scheu und religiöse Hemmungen wird der nackte Mensch in den Mittelpunkt
des künstlerischen Interesses bestellt. Er ist eines der häufigsten
Motive. Die Gründe dafür sind nur selten erotischer oder sexueller
Natur, sondern folgende:
• Am nackten menschlichen Körper wird Maß, Proportion, Bewegung und Harmonie demonstriert.
• Er zeigt sich in seiner Natürlichkeit als Teil des großen Schöpfungszusammenhanges.
• Seine Nacktheit ist das Symbol seiner paradiesischen Unschuld.
• Nach antiker Auffassung ist nur der nackte Mensch schön. Seine Schönheit aber ist das Symbol des Göttlichen.
Die Darstellung der Schönheit
Boticelli, Nacimiento
Die
Darstellung der Schönheit ist eine Konstante in der Kunst der
Renaissance, besonders der italienischen. Der Künstler hatte mehrere
Wege, dieses Ideal in seinen Schöpfungen zu verwirklichen:
• durch Gesetzmäßigkeit
• durch Idealisierung
• durch die Farbe
Viele
Renaissance-Künstler haben, besonders was den weiblichen Körper und das
weibliche Antlitz betrifft, ein Schönheitsideal entwickelt, das auf
vielen ihrer Bilder wiederkehrt, ohne dass man allerdings von
Schematisierung oder Schabionisierung reden kann. Der Eindruck der
Individualität bleibt immer erhalten.
Gesetzmäßigkeit
Raphael, la madone sixtine
Gesetzmäßigkeit und Regel, Ordnung und Maß finden sich in den Proportionen des menschlichen Körpers.
Schönheit
durch Gesetzmäßigkeit sucht man in der Proportionslehre der Geometrie:
das harmonische Verhältnis verschiedener Größen, Breiten, Längen und
Linien in ihren Teilungen zueinander. Bekanntes Beispiel ist der
"Goldene Schnitt" (Teilung einer Strecke, wobei die kleinere zur
größeren im selben Verhältnis steht, wie die größere zur Gesamtstrecke).
Die Antike hatte das Gesetz des Goldenen Schnittes entdeckt. Die
Renaissance wendet es wieder an.
Der Goldene Schnitt
Auch
bei den Verhältnissen beim menschlichen Körper ist der Goldene Schnitt
zu finden (siehe folgende Grafik): Die Strecke vom Bauchnabel bis zum
Kopf (grün 3) durch die Strecke vom Bauchnabel bis zum Boden (rot 3)
entspricht der selben Zahl (Phi) wie die gesamte Körpergröße (grün 3+
rot 3) durch die größere Strecke vom Kopf bis zum Bauchnabel (grün 3).
Das heißt der Bauchnabel eines Menschen markiert in der Regel den
Goldenen Schnitt.
Die Komposition eines
Renaissance-Bildes erfolgt meist nach strengen geometrischen Gesetzen.
Alle Bildelemente, besonders die thematisch und optisch im Vordergrund
stehenden, werden in ein strenges Gefüge eingeordnet, dem der Kreis, das
gleichseitige Dreieck oder das Quadrat zugrunde liegt. Oft aber sind
alle drei regelmäßigen geometrischen Figuren in einem einzigen Schema
verknüpft. Geometrie, Gesetzmäßigkeit, Harmonie und Schönheit sind für
den Renaissance-Künstler wesensverwandt.
Idealisierung
Die
Kunst der Renaissance ist nicht realistisch. Sie wendet sich zwar in
einem nie dagewesenen Maß der Wirklichkeit zu und versucht, sie mit
naturalistischen Mittel abzubilden. Da aber die Wiedergabe der Schönheit
oberstes Prinzip ist, muss der Künstler die Realität filtern, die
brauchbaren Elemente reinigen und auf eine Idee hin vervollkommnen. Die
Natur wird übertroffen.
Nicht selten hat die gemalte Architektur
die Aufgabe, die Richtigkeit des zentralperspektivisch gemalten Raumes,
auch des Landschaftsraumes, und die Harmonie der Architektur — und
gleichzeitig der ganzen Landschafts- und Bildgliederung nachzuweisen.
Auch
die Landschaft ist nach allen Kriterien der realistischen Wiedergabe
des Netzhautbildes und detail-naturalistisch gestaltet. Aber gerade sie
ist durch Auswahl der Motive, durch die delikate Behandlung aller
Gegenstandselemente und durch ihre Komposition in höchstem Maß
idealisiert. Nie soll eine real existierende Topographie wiedergegeben
werden. Die Landschaft ist Sigel für die vollkommene Natur, für den
Garten Eden, sie ist Spiegelbild für das Schöne und Göttliche.
Farbe
Schönheit
drückt sich selbstverständlich in den Farben aus. Die Farbkomposition
ist ein Spiel mit Farbklängen, die sich zu einer Gesamttonart
zusammenfügen, die den spontanen Anmutungscharakter eines Bildes
bestimmt, wie die Tonart eines Musikstückes. Die sensible Einordnung
aller Farbtöne in die Gesamtkomposition ist die primäre Aufgabe. Alle
anderen Funktionen der Farbe (Definition von Gegenstand, Plastizität,
Licht und Schatten, Stofflichkeit, Landschaftsatmosphäre etc.) sind
untergeordnet.
Bei der Farbgebung zeigt sich die Idealisierung der Renaissance-Kunst am deutlichsten.
Wirklichkeitsnähe
Aus
allem bisher Gesagten ergibt sich von selbst die Tatsache, dass der
Renaissance-Künstler bei all seinen Darstellungen um Natürlichkeit, um
Naturnähe bemüht ist. Er will seine Umwelt, seine Umgebung untersuchen,
kennen lernen und genau wiedergeben. Das heißt nicht, dass er keine
religiösen Themen behandeln würde. Im Gegenteil, sie dominieren nach wie
vor. Nur stellt er sie jetzt in eine natürliche Umgebung. Wenn der
Künstler jetzt Metaphysisches darstellen will, dann muss er es durch die
Metaphysik der Schönheit erreichen. Der äußere Rahmen bleibt die
irdische Natur.
Die technischen und theoretischen Mittel werden im Verlauf des 15. Jh. bis zur Perfektion entwickelt Und beherrscht.
Immer
nur ging es ihm um den Idealzustand der Natur. Immer wollte er den
Erscheinungen der Natur Poesie und Schönheit verleihen und sie dadurch
transparent machen für eine höhere Seinsordnung als die Sichtbare,
transparent machen für ein göttliches Prinzip.
Der Renaissance-Künstler
Die
Kunst hatte im Bewusstsein der gebildeten Schicht einen nie geahnten
Stellenwert erreicht. Die Kunst, die Kunstwerke und die Künstler wurden
geachtet und gefeiert wie nie zuvor in der Geschichte. Der Name eines
anerkannten genialen Künstlers musste mit seinem Werk mitgekauft werden.
Das gilt noch bis heute, bis in die Pop-Kunst. Dies kommt in den
Signaturen der jeweiligen Künstler zum Ausdruck.
Nach: G.J. Janowitz - Wege im Labyrinth der Kunst. Sera Print, Einhausen 1987